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Willst du Recht haben oder glücklich sein? Konstruktiver Umgang mit Ärger

 „Willst du Recht haben oder glücklich sein? Was hältst du denn von diesem Titel?“ frage ich. „Unsinn! Ich will Beides.“
„Nein, das geht nicht“, sage ich. „Es ist entweder oder. Beides zusammen geht nicht.“
„Nein, das sehe ich überhaupt nicht so. Natürlich geht das!“ 

Und schwups, sind wir mitten drin im Thema. Kennen Sie solche Situationen? Sie hatten eben eine ganz tolle Idee oder lesen einen wunderbaren Satz. Voller Begeisterung berichten Sie Ihrem Partner oder Partnerin davon und erhalten die Antwort: „Unsinn!“ Was passiert in diesem Moment mit Ihnen? 

Genau! Der Körper reagiert. Der Organismus zieht sich zusammen. Es wird eng. Wir gehen in eine Abwehr- und Verteidigungshaltung und werden ärgerlich. Und ehe wir uns versehen, sind wir mitten in einer Auseinandersetzung. Wenn wir dabei nicht achtsam sind, geht es uns wie den beiden Eseln auf dem Bild. Beide ziehen in entgegengesetzte Richtungen und keiner kriegt, was er braucht oder gerne möchte. 

Wie entsteht unser Ärger? 

Es gibt den Spruch: „Ärger im Herzen ist ein Sollen oder Müssen im Kopf.“ Das gilt 100%! Immer, wenn ich mich ärgere, habe ich ein Sollen oder Müssen im Kopf. Ich gehe in den Widerstand. Der andere, ich oder die Situation sollte anders sein. Eben nicht so, wie sie sich mir gerade zeigt. Mein Gegenüber sollte seine Ansichten, seinen Standpunkt ändern und zwar so, wie ich es will. Wenn ich mich ärgere, will ich Recht haben und du oder die Situation sind verkehrt. Ärger entsteht im Kopf. Er ist die natürlich Folge unnatürlichen Denkens, sagt Dr. Marshall B. Rosenberg, klinischer Psychologe und Begründer der Gewaltfreien Kommunikation. 1 

Wenn ich, wie in meinem Eingangsdialog, die Antwort erhalte: „Unsinn! Nein, das sehe ich überhaupt nicht so. Natürlich geht das!“ bin ich in Windeseile im Kopf und das Gedankenkino mit seinen Interpretationen, Schuldzuweisungen, Bewertungen beginnt. Ich mache mein Gegenüber oder die Situation für meinen Ärger verantwortlich. „Wieso muss er immer alles hinterfragen? Kann er nicht einmal die Dinge so stehen lassen, wie sie sind? Ich weiss doch, dass ich Recht habe, schliesslich unterrichte ich das doch. Ständig diese Rechthaberei ect., ect.,ect.“ Je mehr es denkt, umso grösser wird mein Ärger. 

Die Tragik dabei ist, dass ich mich immer mehr ins Rechthabenwollen verstricke, Energie verliere und das, worum es mir wirklich geht, aus den Augen verliere. Ich mache mein Gegenüber verantwortlich für meine Gefühle. „Wenn er oder sie sich nur anders verhalten würde, dann ginge es mir gut!“ Damit gebe ich meine Verantwortung und meine Eigen-Macht ab und begebe mich in Abhängigkeit. Was mein Gegenüber sagt oder tut, ist Auslöser, aber nicht die Ursache meiner Gefühle. 

Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum.
In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen.“ 
Viktor E. Frankl 

Den Raum meiner Freiheit und Macht vergrössern. Das ist eines der Ziele der Gewaltfreien Kommunikation. Sie geht davon aus, dass hinter all unserem Denken, Fühlen und Handeln immer erfüllte oder unerfüllte Bedürfnisse stehen, die wahrgenommen werden wollen. 

„Im Kern jeden Ärgers findet sich ein Bedürfnis, das nicht erfüllt ist.“

Ärger ist ein Gefühl, dass uns wie das rote Lämpchen im Auto darauf hinweist, dass Bedürfnisse zu kurz kommen und wir aufgefordert sind, hinzuhören. Ärger sagt mir immer: Stopp! Innehalten. Etwas, das mir wichtig ist, kommt in diesem Augenblick zu kurz. Es ist die Aufforderung, mir klar zu werden, was es ist, um dann, nach erfolgter Klärung, aus dieser Energie heraus in die Handlung oder ins Gespräch gehen. 

In meinen Seminaren bitte ich jeweils meine Teilnehmer/innen in einem kurzen Brainstorming aufzuschreiben, was sie ärgert oder was sie auf die Palme bringt. Die Antworten lauten dann jeweils: Unehrlichkeit, Ungerechtigkeit, Intoleranz. Unpünktlichkeit. Bevormundung, Rechthaberei, etc. Es wird sehr schnell klar, dass das, was wir da sammeln Bedürfnisse sind, die uns wichtig sind. Was möchte ich wirklich? Oft ist es genau das Gegenteil dessen, worüber ich mich ärgere. (Un-) Ehrlichkeit, (Un-) Gerechtigkeit, (In-) Toleranz, (Un-) Pünktlichkeit. Und manchmal braucht es etwas Übersetzungsarbeit: Statt Bevormundung ist es vielleicht Gleichwertigkeit und Ernstgenommen werden. Ich will nicht unbedingt Recht haben. Es ist mir wichtig, dass mein Wort auch was gilt, meine Meinung Gehör findet. 

Bedürfnisse

Wenn wir in der Gewaltfreien Kommunikation von Bedürfnissen reden, dann meinen wir damit das, was wir brauchen, damit es uns gut geht. Rosenberg nennt es die lebensfördernde Energie. Wenn wir uns überlegen, was uns persönlich wichtig ist in Bezug auf uns selbst, in unseren Beziehungen und im Leben ganz allgemein, dann fallen Begriffe wie Gesundheit, Harmonie, Toleranz, Ruhe, Geborgenheit, Liebe, Selbstbestimmung, Freiheit etc. (siehe Kasten Bedürfnisliste) Wir stellen dann jeweils fest, dass diese Bedürfnisse universal sind. Wir alle haben sie. Allen ist Gesundheit, Harmonie, Toleranz etc. wichtig; oft nicht zur gleichen Zeit, aber alle Bedürfnisse auf der Liste sind für unser Leben wichtig. Mehr noch! Ein tieferes Verständnis der Bedürfnisse bedeutet, dass die Energie, die Qualität, die ein Bedürfnis für mich hat, körperlich, energetisch spürbar ist. Bedürfnisse werden wie Gefühle nicht gedacht, sondern über den Körper gespürt. 

Wenn ich in meinem Eingangsdialog erkenne, wie wichtig es mir ist, dass ich „ernst genommen werde“ und mir „zugehört wird“, dann tritt eine erste Beruhigung in mein System. Das faszinierende und erstaunliche bei dieser bedürfnisorientierten Herangehensweise besteht darin, dass jedes Mal, wenn die Bedürfnisse erkannt und wahrgenommen werden – wenn ich quasi wirklich gehört und gesehen werde darin, worum es mir wirklich geht – sich das ganze System entspannt. Ich kann meinen Wider- stand und mein Rechthabenwollen loslassen! 

Je grösser der Ärger, umso tiefer der Schmerz 

Es gibt einen weiteren Merksatz im Zusammenhang mit Ärger: Je grösser der Ärger, umso tiefer der Schmerz. Das gilt besonders dann, wenn wir aus einer Mücke einen Elefanten machen. Es ist ein Hinweis darauf, dass unser System ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Situation als gefährlich einstuft und ein Bereich angesprochen wird, der mit unserer Prägung, Erfahrung oder wie ich es gerne nenne, mit unseren Rucksack-Themen zu tun hat. Ein Rucksack-Thema ist eine schmerzhafte Erfahrung in unserer Biographie, die noch nicht geheilt ist und meist in inneren Überzeugungen über uns, andere oder das Leben zum Ausdruck kommt (sog. Glaubenssätze). 

Wer kennt das nicht? Gewisse Situationen oder Menschen haben die Fähigkeit, unsere Knöpfe zu drücken und unser System reagiert ganz automatisch mit Flucht, Angriff oder Erstarrung. Wir scheinen gar keine andere Wahl zu haben. Das sind die Überlebensfunktionen des limbischen Systems oder emotionalen Gehirns. Das emotionale Gehirn ist unbewusst, aufs Überleben bedacht und im engen Kontakt mit dem Körper. Das rationale, denkende Gehirn (Neokortex) hingegen ist bewusst, rational und der Aussenwelt zugewandt. Das emotionale Gehirn kontrolliert die Atmung, den Herzrhythmus, den Blutdruck, den Appetit, den Schlaf, die Libido, die Ausschüttung von Hormonen und das Immunsystem. 3 

Aus der Gehirnforschung ist bekannt, dass das emotionale Gehirn die Fähigkeit hat, „den präfrontalen Kortex, den am höchsten entwickelten Bereich des kognitiven Gehirns, abzuschalten (englisch: „to go offline“)“ 4 Andererseits kann das kognitive Gehirn die gefühlsmäßigen Reaktionen dämpfen und bewahrt uns vor zu heftigen Gefühlen. „Die Kontrolle von Gefühlen durch das Denken ist jedoch eine zweischneidige Angelegenheit: Kommt sie allzu oft zum Zug, verliert man möglicherweise die Fähigkeit, die Hilferufe des emotionalen Gehirns zu hören. Auf die Folgen einer Unterdrückung von Gefühlen trifft man häufig bei Personen, die als Kinder gelernt haben, dass Gefühle nicht zulässig sind. Typisches Beispiel dafür ist die Männern so häufig eingetrichterte strenge Ermahnung: „Ein Junge weint nicht!“ 5 

Im Zusammenhang mit unserem Ärgerverhalten bedeutet dies, dass Ärger ein Ausdruck des limbischen Gehirns in Form des Angriffs ist. Das kognitive Gehirn (Denken) versucht nun seinerseits durch eigene Geschichten und Projektionen im Aussen (Schuldzuweisungen, Urteile usw.) die Gefahr abzuwenden. Im Prinzip versuchen beide „Gehirne“ mein System vor Schmerz zu bewahren. 

Nur wenige haben gelernt, Ärger als eine konstruktive Kraft zu nutzen und hinzuhören, was die eigentliche Botschaft ist. Ärger wurde unterdrückt und damit auch die Lebenskraft, die Bedürfnisse, die gelebt werden wollten. Die Folgen davon sind Verhaltensweisen in unserem Umgang miteinander, die nicht nur uns, sondern auch das Gegenüber verletzen. Je grösser der Ärger, umso tiefer der Schmerz. 

Bei genauerem Hinhorchen und Mich-Öffnen, erkenne ich in meinem Eingangsdialog noch tiefere Schichten von Gefühlen und Gedanken, die nicht so offensichtlich sind. Unter meinem Ärger liegt Verunsicherung, Anspannung, Angst und Hilflosigkeit. Die erste Reaktion auf „Unsinn!“ ist Luftanhalten und Erstarren. Dann fängt mein Denken an zu arbeiten. Ich gehe in Schuldzuweisungen, Rechthaberei etc. und ich erzähle mir die Geschichte: „Ich habe keine Chance. Was mir wichtig ist, zählt sowieso nicht.“ Diese Geschichte kenne ich gut und sie begleitet mich schon mein ganzes Leben. Der Dialog ist nur der Auslöser eines alten Schmerzes, der noch nicht geheilt ist. Die Geschichte eines kleinen

Mädchens, dass die Überzeugung in sich trägt, nicht wichtig zu sein. Und diese Erkenntnis löst Trauer aus. 

Depression ist die Belohnung fürs Bravsein 

Wird Ärger unterdrückt und über längere Zeit verdrängt, kann das zu Depression führen. Rosenberg prägte den Ausspruch: „Depression ist die Belohnung fürs Bravsein.“6 Es ist die gleiche Energie des Widerstands. Nur wird sie nicht geäußert, sondern unterdrückt. Nach Außen sind wir „lieb und nett“, und innerlich kochen wir. Je mehr Ärger wir anstauen, umso grösser wird die Chance, dass wir in verbale, emotionale oder physische Gewalt abgleiten. Es geht dann nicht mehr um die Sache. Jegliche Form von Aggression oder Gewalt sind ein tragischer Ausdruck von unerfüllten Bedürfnissen. 7 Wir hoffen, dass wir damit die Situation oder die Welt verändern können. Die Tragik besteht darin, dass sich weder die Menschen noch die Situation verändern, und wenn, dann höchstens aus Angst vor Konsequenzen. Vielmehr geht unser Gegenüber ebenfalls in den Widerstand und es entsteht Streit und die Positionen verhärten. 

Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum.
In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht,
unsere Reaktion zu wählen.
In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“ 
Viktor E. Frankl 

Es ist nicht mein Ziel, den Ärger aus meinem Leben zu verbannen. Mein System reagiert aufgrund jahrelanger Konditionierung und evolutionärer Entwicklung mit einem ersten Impuls von Kontraktion und Anspannung, wenn es irgendeine Form von Gefahr wittert. Es braucht jahrelanges Training, um diesen Impuls zu verändern. Den Raum, den Frankl erwähnt, ist für mich der Raum, in dem ich meine Reaktion auf meine Erstreaktion verändern kann. Wie reagiere ich, wenn ich merke, dass ich ärgerlich werde? Was mache ich, wenn ich merke, dass ich mich in Schuldzuweisungen und Recht haben wollen ver- stricke? 

Zusammenfassung:

  1. Nehmen Sie Ihren Ärger ernst. Er weißt auf unerfüllte Bedürfnisse hin. 
  2. Hören Sie – ohne sich zu verurteilen – Ihren urteilenden Gedanken zu. Sie weisen auf unerfüllte Bedürfnisse hin. 
  3. Übersetzen Sie Ihre Gedanken (was ich nicht will) in Bedürfnisse (was ich will) und lassen Sie sich berühren. 
  4. Wenn Sie sich die Ausgangssituation wieder vor Augen führen und noch Ärger vorhanden ist, bedeutet dies, dass es weitere Bedürfnisse gibt, die noch nicht erkannt worden sind. Nehmen Sie sich ernst und wichtig! Ihre Lebenskraft ist blockiert. 
  5. Wenn alle Bedürfnisse auf dem Tisch sind, besteht kein Grund mehr sich zu ärgern. Andere 
  6. Gefühle wie z.B. Trauer oder Erleichterung machen sich bemerkbar. Der Ärger in dieser konkreten Situation ist transformiert. 
  7. Die Lösung findet Sie! Sobald die Bedürfnisse klar sind, sobald Sie wissen, was Sie brauchen, 
  8. wissen Sie auch sofort, was der nächste Schritt ist, z.B. ein weiteres klärendes Gespräch. 

ÜBUNG, um mit der lebendigen Energie von Bedürfnissen in Kontakt zu kommen 

Setzten Sie sich bequem hin und atmen Sie zwei bis dreimal tief ein und aus.
Wählen Sie ein Bedürfnis, das Ihnen gerade wichtig, z.B. Verstanden werden.
Schliessen Sie die Augen und stellen Sie sich eine Situation in Ihrem Leben vor, in dem dieses Bedürfnis voll und ganz erfüllt ist.
Wie fühlt sich das an? Welche Gefühle tauchen auf? Welche Körperempfindungen nehmen Sie wahr? Wird es weit? Warm? Entspannt sich Ihr Körper? Wie atmen Sie? Im Bauch oder in der Brust? Vielleicht tauchen innere Farben auf? Vielleicht schmecken Sie sogar, wie Verstanden werden, schmeckt? Eventuell tauchen Gerüche auf? 

Verweilen Sie noch ein paar Augenblicke bei diesem Bedürfnis, das genauso, wie es sich gerade zeigt, in Ihnen lebendig ist. 

Stellen Sie sich nun vor, dass Sie aus dieser Energie heraus Ihren Chef oder Ihren Partner/in bitten, Ihnen bei etwas, das Ihnen wichtig ist, zuzuhören. Wie glauben Sie, verläuft das Gespräch? 

1 Marshall B. Rosenberg: Was deine Wut die sagen will: überraschende Einsichten, Das verborgene Geschenk unseres Ärgers entdecken, Junfermann 2007, S. 45 
2 Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens, Junfermann, 2009, S. 166 
3 David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen, Goldmann 2006, S. 33ff. 
4 David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen, Goldmann 2006, S. 41
5 David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen, Goldmann 2006, S. 43 
6 Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens, Junfermann, 2009, S. 92
7 Marshall B. Rosenberg: Was deine Wut die sagen will: überraschende Einsichten, Das verborgene Geschenk unseres Ärgers entdecken, Junfermann 2007, S. 45 

1 Marshall B. Rosenberg: Was deine Wut die sagen will: überraschende Einsichten, Das verborgene Geschenk unseres Ärgers entdecken, Junfermann 2007, S. 45 
3 David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen, Goldmann 2006, S. 33ff. 
4 David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen, Goldmann 2006, S. 41
5 David Servan-Schreiber: Die Neue Medizin der Emotionen, Goldmann 2006, S. 43 
6 Marshall B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation – Eine Sprache des Lebens, Junfermann, 2009, S. 92
7 Marshall B. Rosenberg: Was deine Wut die sagen will: überraschende Einsichten, Das verborgene Geschenk unseres Ärgers entdecken, Junfermann 2007, S. 45